Ortsgeschichte

Mädchen schieden nach der Heirat als Sängerinnen aus

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Es war eine turbulente Zeit: Gerade hatte man unter größten Geburtswehen das Deutsche Kaiserreich ausgerufen und versucht, es sich unter Reichskanzler Bismarck und Kaiser Wilhelm I. gemütlich zu machen, da versetzte schon die Gründerkrise die Bevölkerung in Aufruhr. In Plankstadt erblickt Peter Schäfer, der später als Mannheimer Lokallegende "Blumepeter" Berühmtheit erlangte, das Licht der Welt und im beschaulichen Reilingen bringt die Idee des Hauptlehrers und Organisten Eyermann die älteste heute noch bestehende Vereinigung der Spargelgemeinde in Gang.

Bereits seit der Reformation war es in dem kleinen Ort gute Sitte, "zur Leiche" zu singen. Eyermann kam auf den Gedanken, man könnte doch den dafür eigentlich eingesetzten Schülerchor um ein paar Männerstimmen und damit Bassfundament ergänzen. Was 1875 noch ein außergewöhnlicher Anblick war, wurde bald schon zu einer festen Institution: Bereits zehn Jahre später, als ein neues Kirchengesangbuch eingeführt wurde, war es eine Auszeichnung, wenn man vom "Rat der ältesten Sänger" für würdig befunden wurde, im Kirchenchor zu singen, nicht nur die Beerdigungen, sondern auch kirchliche Feste wurden von dem Chor, der bis 1886 unter der Leitung von Gründer Eyermann blieb, gestaltet.

Turbulente Zeiten mit zahlreichen Dirigentenwechseln prägten die 1890er-Jahre für den Chor, bis Ortspfarrer, Kirchenrat und Dekan Wilhelm Henning die Chorleitung und 1914 den Vorsitz übernahm und damit etwas Ruhe in den Chor brachte, der allerdings in Kriegszeiten von ganz neuen Herausforderungen geplagt war: Nicht nur, dass die aktiven Männer im Felde standen und damit große Lücken hinterließen; man litt auch unter dem "ungeschriebenen Gesetz", dass Mädchen und junge Frauen nach ihrer Heirat als Sängerinnen ausscheiden.

Erinnerung an Franz Riegler

Dennoch erholt sich der Chor nach dem Ersten Weltkrieg - vor allem Dank des großen Einsatzes der Dirigenten Franz Riegler und Fritz Müller und der beherzten Unterstützung durch den 1919 nach Reilingen gekommenen Ortspfarrer Dr. Erckenbrecht. Dirigent Ernst Henny, der ab 1922 für fünf Jahre die Geschicke des Chores leitete, war es zu verdanken, dass man 1925 den "Fünfzigsten" gebührend feiern konnte: Unter der Leitung des Landeskirchenmusikdirektors Dr. Poppen wird das Oratorium "Der Jüngling zu Nain" aufgeführt.

Auch der Zweite Weltkrieg hinterlässt in der Geschichte der ältesten Vereinigung des Gemeinde seine Spuren, wenngleich unter der bereits bewährten Leitung Franz Rieglers ein schneller Wiederaufbau der Gemeinschaft nach den Kriegswirren gelingt. Nicht nur aus diesem Grund geht 1956 so etwas wie eine Ära zu Ende: Franz Riegler, der den Chor über 20 Jahre geprägt und geformt hatte, übergab den Stab in andere Hände, blieb aber als Ehrendirigent weiter "seinem" Kirchenchor verbunden.

Der junge Klaus Eisenmann

Im Jahre 1959 übernahm der junge strebsame Musiker Klaus Eisenmann die musikalische Leitung für 16 Jahre. In seine Amtszeit fallen die Einweihung der neuen Weinbrenner-Kirche, die Amtseinführung von Pfarrer Welker und 1975 - kurz vor seinem Ausscheiden, weil Eisenmann zum Generalmusikdirektor ans Staatstheater nach Lübeck berufen wurde, seine weitere Karriere konnte durch zahlreiche Auftritte auch in unserer Region verfolgt werden - die vielbeachtete Aufführung der "Schöpfung" von Haydn zum hundertsten Geburtstag des Chores in der Mannherz-Halle. Eisenmanns Nachfolger Ulrich Greiner führte mit seinem Chor 1978 Schuberts "Deutsche Messe" auf, prägte die Stimmen der Sängerinnen und Sänger auf die LP "Reilinger Chöre und Kapellen geben sich ein Stelldichein” und brachte 1985 zum runden Jubiläum eine gekürzte Fassung des "Messias" von Händel auf die Bühne.

Die jüngste Geschichte des Vereins prägen Dirigent Hans-Jürgen Reinhardt, der seit 1987 den Chor weiter vorangebracht hat und Frank Powik, der seit 1996 Vorsitzender der Sängervereinigung ist. Ohne die bisherigen Leistungen schmälern zu wollen fällt in diese Zeit auch das ohne Frage ehrgeizigste und bemerkenswerteste Projekt, das der evangelische Kirchenchor Reilingen jemals gestemmt hat: Reinhardt setzt sich mit einem "Reilinger Passionsspiel", das am Palmsonntag des Jahres 2000 das 125-jährige Jubiläum zu einer Großveranstaltung avancieren ließ, ein Denkmal.

Passionsspiel als Markstein

Wenngleich natürlich auch der evangelische Kirchenchor Reilingen - wie alle kulturtragenden Vereine - mit Nachwuchssorgen zu kämpfen hat, so ist das, was diesen Verein so wertvoll macht für das Leben der Kirchengemeinde, aber auch für das Leben der Spargelgemeinde als solcher, die seit nunmehr 130 Jahren stets aufrecht erhaltene Kombination aus kontinuierlichem Einsatz im Alltag und herausragenden Ereignissen an manchem markanten Punkt auch der Ortsgeschichte.

So ist aus dem einst so ungewöhnlichen "Trauerzug" zum "Wersauer Hof" ein lebendiger Verein geworden, der nicht mehr nur auf dem Friedhof seine Wirkung zeigt, sondern mitten im Leben. mhw
( 25.04.2005 - 14:24)

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