Ortsgeschichte

Vor 60 Jahren
Vertriebene in unseren Heimatort in den 50er Jahren

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Als am 8. Mai 1945 die Deutsche Wehrmacht bedingungslos kapitulierte, atmeten die Menschen in Europa auf. Doch für Millionen begann nach diesem Tag etwas, das schlimmer war, als alles was sie zuvor im Krieg erlebt hatten. 60 Jahre sind es nun her, dass mehr als 12 Millionen Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden oder aber bereits kurz vor Kriegsende aus berechtigter Angst vor dem Hass der Sieger, wie aus Ostpreußen und Pommern, geflohen waren. Fast zweieinhalb Millionen überlebten die Strapazen der Flucht nicht. Die Zurückgebliebenen mussten jahrelang das Schreckensregiment ihrer Peiniger ertragen bis zur endgültigen „Rücksiedlung“ der Deutschen in ihr „eigentliches Heimatland“.

In den Jahren 1945 bis 1948 fanden in Reilingen rund 600 Menschen eine neue Heimat. Der größte Teil kam aus der Tschechoslowakei (Sudetenland) und aus Ungarn. Zeitzeugen, wie Maria, genannt Mizzi Schlesinger, geb. Peschke (Foto), Heide Klein, geb. Köhler und ihr früh verstorbener Vater Kurt Köhler, Letzterer in umfangreichen schriftlichen Aufzeichnungen, berichteten von der „Aussiedlung“ und „Einbürgerung“ im Frühjahr 1946. Köhler, der aus Landskron stammt, schreibt dazu: „Früh am Nachmittag kam der Befehl, ‘alles in die Waggons’. Wir stiegen ein und machten uns, soweit es möglich war, einen Sitzplatz zurecht. Alles war durcheinander, Männer, Frauen, Jugend und kleine Kinder. Die Leiter wurde hochgezogen und vor die Tür gestellt, um das Hinausstürzen zu verhindern. Für die Verrichtung der Notdurft stand in einem Winkel des Wagens ein altes Gefäß.“ Zu 30 Menschen mit je 50 kg Gepäck in jedem der 40 Waggons begann die Reise ins Ungewisse. Alles Hab und Gut war bereits einen Tag nach der Kapitulation von der tschechischen Regierung beschlagnahmt worden. Über Pilsen, Prag und Furth im Wald ging es an die Grenze. Tschechen, die an der Strecke standen, warfen mit Steinen und streckten die Zunge heraus. Drei bis sechs Züge mit je 1200 Personen rollten täglich ihren Zielen in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und in die sowjetische Besatzungszone entgegen.

Ein letztes Mal waltete die tschechische Begleitmannschaft an der Grenze ihres Amtes, bis eine amerikanische Kommission den Zug übernahm. Alle mussten sich einer gründlichen Entlausungskur unterziehen, aus Angst vor Seuchen, die bei den Amerikanern besonders ausgeprägt war, wie jeder weiß, der in amerikanische Gefangenschaft geriet. „Die deutsche Kleidung und vertraute Sprache, die an unser Ohr drang, versetzte uns in Freudenstimmung“, schreibt Kurt Köhler in seinen Memoiren. (Foto) Nach vier Tagen durch herrliche, frühlingsgrüne Landschaften fuhr der Zug in Hockenheim ein. Eine Nacht verbrachten die Menschen noch in den Waggons und am Morgen begann die Übersiedlung in ein Lager in der Pestalozzischule.

Das Landratsamt (damals Weinheim) setzte die „Flüchtlingskontingente“ für die einzelnen Ortschaften fest. Die Gemeindeverwaltungen mussten eine Wohnungs- und Zimmerbestandsaufnahme durchführen nach deren Ergebnisse die Zuteilung der Neubürger erfolgte. Die Statistik vom 2. Juli 1946 meldet in Reilingen 255 Vertriebene und 132 Evakuierte, die wegen des Bombenkriegs aus Großstädten wie Mannheim, zugezogen waren. Dass dies bei der alteingesessenen Bevölkerung und der schon herrschenden Wohnungsnot nicht ohne Spannungen vor sich ging, ist einleuchtend.

Mit Pferdegespannen holten die (überwiegend) Landwirte ihre „Zugewiesenen“ in Hockenheim ab. Auf engstem Raum begann dann das Leben für die Vertriebenen in ihrer alten Heimat Deutschland. Urplötzlich änderte sich damals das Straßenbild in Reilingen. In ihren heimatlichen Gewändern bildeten die Neuankömmlinge eine fremdartige Erscheinung. Auch der fremde Dialekt machte die Annäherung an die Bewohner nicht einfach. Da gerade die Spargelzeit angebrochen war, kam es den Landwirten nicht ungelegen, neue Arbeitskräfte einsetzen zu können, zumal die meisten der Vertriebenen im Sudetenland Landwirtschaft betrieben hatten.

Das Streben nach einem Eigenheim beflügelte das Schaffen und Wirken der Neubürger ungemein und nach zehnjähriger zäher Arbeit mit Fleiß und Ausdauer konnten die ersten unter größten Opfern eigene Häuser bauen.

Heute gibt es nicht mehr viele Zeitzeugen der Vertreibung und die Erinnerung verblasst naturgemäß mehr und mehr. Da bekanntlich die Liebe alle Grenzen überwindet, fanden bald die ersten Hochzeiten zwischen Einheimischen und Vertriebenen statt, ein wichtiger Schritt zur Integration war getan. Die Angehörigen der zweiten, jetzt schon dritten Generation sind echte Reilinger geworden.

svs, Fotos svs, Chronik
( 18.12.2006 - 12:25)

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Maria, genannt Mizzi SchlesingerMaria, genannt Mizzi Schlesinger

© Gemeinde Reilingen 2006