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»So etwas darf es nie wieder geben«
Der Reilinger Schiedrichter Kurt Tschenscher

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Neapel, 5.6.1968: Das EM-Halbfinale Italien gegen Sowjetunion muss per Münze entschieden werden. Der Reilinger Schiedsrichter Kurt Tschenscher wirft sie - und erlebt die Geburtsstunde des Elfmeterschießens

Die Sowjets hätten dieses Halbfinale eigentlich schon in der regulären Spielzeit gewinnen müssen. Sie waren die taktisch bessere Mannschaft gewesen und hatten im Gegensatz zu den Italienern, denen gar nichts gelang, etliche Torchancen gehabt. Doch es blieb es auch nach der Verlängerung beim 0:0. Mir war klar, dass es zu einer Entscheidung durch Münzwurf kommen musste, da es Elfmeterschießen noch nicht gab. Ich schritt also mit den beiden Kapitänen Giacinto Facchetti sowie Juri Istomin in Richtung Anstoßkreis, weil ich dachte, dass die Sache genau wie bei der Platzwahl unter freiem Himmel stattfinden würde. Dort warteten wir auf die beiden Verbandspräsidenten Walentin Granatkin, damals Sportminister der UdSSR, und Artemio Francchi, den späteren UEFA-Boss. Die beiden Herren teilten uns jedoch mit, dass der Münzwurf jedoch in meiner Kabine unter Ausschluss der Öffentlichkeit, stattfinden sollte. Ich musste diesen Entschuss akzeptieren, obwohl er für mich als Schiedsrichter nicht nachvollziehbar war. Also gingen meine Assistenten und ich mit den Kapitänen und den beiden Funktionären in die Katakomben. Facchetti und Istomin mussten auf dem Gang warten. Hinter geschlossener Kabinentür fragte mich Granatkin sofort, ob ich denn eine geeignete Münze hätte. Ja, ich besaß eine türkische Spielmünze, die mir einmal ein Kollege geschenkt hatte - auf der einen Seite war ein Fußball, auf der anderen WM ein Fußballtor abgebildet. Man wählte also nicht „Kopf oder Zahl“, sondern „Ball oder Tor“. Erstaunlicherweise bat mich Granatkin, mit der Münze zuerst einen Probewurf zu machen. Francchi stimmte dem Vorschlag zu und überließ dem Kontrahenten die Wahl. Dieser setzte auf die Ball-Seite und meine Münze zeigte beim ersten Wurf auch prompt den Ball, wonach die UdSSR weiter gewesen wäre. Immerhin, der Probewurf hatte die angespannte Stimmung etwas gelockert, und lächelnd überließ Granatkin nun Francchi die Wahl. Dieser setzte auf Tor – ich warf die Münze noch mal hoch und diesmal lag sie mit dem Tor-Emblem nach oben auf meinem Handrücken. Damit waren Spiel und Schicksal besiegelt – Italien war im Finale. Wir gaben uns alle die Hand, meine Assistenten notierten den Entscheid im Spielprotokoll. Insgesamt hatte das alles bestimmt zehn Minuten gedauert. Dann machten wir die Kabinentür wieder auf, um den beiden Kapitänen das Ergebnis mitzuteilen.

Juri Istomin wirkte recht gefasst zumal er von seinem Präsidenten Granatkin direkt tröstend umarmt wurde. Facchetti hechtete aber durch die Kabinengänge aufs Spielfeld, um seinen Mitspielern die Nachricht zu überbringen. Noch während ich im Gang mit den beiden Funktionären sprach, brach draußen auf den Rängen ein unbeschreiblicher Jubel aus. Die Italiener tanzten ausgelassen auf dem Rasen herum, während die ersten russischen Spieler mit versteinerten Gesichtern bereits an mir vorbei in ihre Kabine schlichen.

Noch heute denke ich: Ein Münzwurf war bei solch einem wichtigen Spiel mehr als unangemessen. Aber wissen Sie, was der russische Fußballpräsident zu mir direkt nach dem Münzwurf in der Kabine sagte? „Herr Tschenscher, wir müssen für so eine Situation schnell eine andere Lösung finden, so etwas wie hier darf es nie wieder geben – wir brauchen ein Elfmeterschießen!“
Mike Draegert aus 11Freunde
( 23.06.2008 - 13:54)

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