Ortsgeschichte

Wie sich das Bauerndorf Reilingen zu einer Industriearbeitergemeinde wandelte
Schaubild Verhältnis hauptberufl. Landwirte/Nebenerwerbsland

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Bevor sich Handwerk, Handel und Industrie entwickelten, lebten alle Menschen vom Ertrag der heimatlichen Scholle. So wohnten auch in unserer Gemeinde früher nur Bauern. Diese waren Leibeigene des Wersauer Schloßherrn. Von ihm erhielten sie Haus und Land zum Leben, das sie bewirtschafteten; dafür mussten sie aber auf dem Wersauer Gutshof mancherlei Frondienste leisten, außerdem hatten sie pünktlich zu Martini ihre Zehnten an Naturalien bzw. Geldzins an die Kellerei Wersau abzuliefern.

Das Leben dieser Menschen war hart. Es wurde geformt durch die Abgeschlossenheit des dörflichen Raumes, durch eine festgefügte Familien- und Dorfgemeinschaft, durch eine feste Ordnung im Lebenslauf jedes Dorfbewohners.

Als 1769 der fortschrittliche Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz in seinem Lande die Erbuntertänigkeit seiner Bauern aufhob, war der Weg frei für ein ungebundeneres Wirtschaftsleben in unserem Raum. Die Bauern erhielten den bisher belehnten Grund und Boden als Eigentum und wurden frei. Nun konnten sie ihre ganze Kraft auf die eigene Scholle verwenden. Durch zähen Fleiß der gesamten Familie gelang es vielen, ihren Besitz durch Zukauf zu vergrößern.

Im Zuge der sich bahnbrechenden Gewerbefreiheit um die Mitte des vorigen Jahrhunderts und der damit verbundenen Auflösung des Zunftzwanges, ließen sich immer mehr Handwerker in der Gemeinde nieder und veränderten nach und nach den rein bäuerlichen Charakter des Dorfes. Der Bauer, der sich die Bedarfsgüter des täglichen und beruflichen Lebens gezwungenermaßen selbst herstellen musste, weil ein geregelter Waren- und Güteraustausch zwischen Stadt und Land vielfach durch Zölle erschwert bzw. unterbunden war, hatte einen Wirtschaftspartner erhalten. Die Reilinger Bauernsöhne, die sich früher als Knechte verdingen mussten, zogen jetzt in die Stadt zu einem Handwerksmeister in die Lehre. Nach der Gesellenprüfung begaben sie sich auf die Wanderschaft, kehrten dann ins Elternhaus zurück, wo sie sich gewöhnlich eine Werkstatt einrichteten. Diese Handwerker blieben der Landwirtschaft meist eng verhaftet, zumal sie ja ihre eigenen Äcker, das Erbteil aus dem väterlichen Besitz, bewirtschafteten. Das war auch gut so, denn nur langsam und zögernd kamen die Arbeitsaufträge. Erst in den folgenden Jahrzehnten erwuchsen dem Handwerk reiche Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten.

Infolge der fortschreitenden Mechanisierung und Technisierung verlagerte sich jedoch die Neuanfertigung von Bekleidung, Schuhwerk, Gebrauchs- und Haushaltsartikel aus dem Handwerksbetrieb in die Fabrik. Die Folge war, dass viele ortsansässige Handwerksbetriebe zu bloßen Ausbesserungswerkstätten umfunktioniert wurden. Dieser Umstand brachte es auch mit sich, dass der Handwerker immer mehr zum Händler und Verleger von Fertigfabrikaten geworden ist.

Aus dem Bauern-Handwerker hat sich im Laufe der Zeit der Händler-Handwerker entwickelt. Im Jahre 1854 waren 51 – Bauern-Handwerker in Reilingen registriert.

Die Anfänge des lndustriearbeitertums in Reilingen reichen in die 60iger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. Auf der Suche nach billigeren Arbeitskräften dezentralisierte sich damals die Badische Zigarrenindustrie von der Stadt aufs Land hinaus.

Auch in Reilingen wurde eine Zweigniederlassung der Zigarrenfirma Weber und Ritzhaupt aus Heidelberg gegründet. Die Ansiedlung dieses Industrieunternehmens war für unseren Ort von großer Bedeutung, denn die Erwerbsmöglichkeiten waren zu jener Zeit sehr gering.

Durch fortgesetzte Erbteilungen wurde der Grundbesitz in unserer Gemeinde in Kleinst- und Zwergbetriebe zersplittert. Diese kleinen Betriebe standen vielfach am Rande des Existenzminimums und hatten Schwierigkeiten, sich über Wasser zu halten. Darum war es für viele ein wahrer Segen, dass sich ihnen jetzt die Möglichkeit bot, zusätzlich etwas zu verdienen.

In den sog. Gründerjahren entstanden in Reilingen immer mehr Zigarrenfabriken. Um die Jahrhundertwende gab es hier 10 Betriebe dieser Art mit insgesamt 900 Beschäftigten. Jeder 3. Reilinger war damals mit der Herstellung von Zigarren beschäftigt. Durch Fleiß und Sparsamkeit entwickelte sich trotz des anfänglich geringen Lohnes in den Reilinger Familien ein bescheidener Wohlstand.

Seit dem 1. Weltkrieg ist die Tendenz in der Zigarrenbranche rückläufig. Als Folge der geringen Nachfrage an Zigarren und durch den steigenden Zigarettenkonsum, gerieten zuerst die kleinen Betriebe in Absatzschwierigkeiten und gaben auf. 1954 waren nur noch 2 Zigarrenfabriken am Ort mit etwa 220 Beschäftigten ( vorwiegend Frauen und Mädchen). Heute, 20 Jahre später, gibt es in Reilingen keine Zigarrenfabriken mehr.

Das oben stehende Schaubild verdeutlicht das Verhältnis der hauptberuflich tätigen Landwirte zu den Nebenerwerbslandwirten.

Die Zigarrenindustrie hat in unserer Gemeinde den Typ eines Industriearbeiters geschaffen, der tagsüber in einer Fabrik tätig ist und nach Feierabend seine Äcker bestellt. Diese Mischung aus Industriearbeiter und Landwirt hat sich bis zum heutigen Tag erhalten, obzwar ihre Zahl (laut Statistik) in den letzten Jahren im Vergleich zu den inzwischen stark im Kommen begriffenen Arbeitnehmern ohne landwirtschaftlichen Nebenverdienst, stark rückläufig ist.

7 Jahre nach dem 1. Weltkrieg hatte Reilingen die meisten Nebenerwerbslandwirte. Der Grund ist vielleicht in der allgemein schlechten Wirtschafts- und Erwerbslage der Nachkriegsjahre zu suchen: viele Arbeiter sahen sich wohl genötigt, Ackerland zu pachten, bzw. vorhandenen Besitz noch zu vergrößeren, um auf diese Weise besser durch die Krise zu kommen.

In der Folgezeit verringert sich die Zahl der Nebenerwerbsbetriebe. Wahrscheinlich spielen die Auswirkungen des Reichserbhofgesetzes vom Jahre 1933 mit hinein.

Im Jahre 1974 wurden nur noch 189 Industriearbeiter-Bauern gezählt. Es ist anzunehmen, dass mancher, in den Jahren der Hochkonjunktur ( 1950-65) bei den zahlreichen gesicherten Verdienstmöglichkeiten und prallen Lohntüten, seine landwirtschaftliche Nebenbeschäftigung aufgegeben hat.

Auffallend ist auch der stete Rückgang der rein bäuerlichen Betriebe seit 1900. Wieviele Schulkinder Bauernkinder gewesen sind, zeigt die unten stehende Graphik.

Bedingt durch die günstige Lage am Rhein mit dem Ende der damaligen Rheinschiffahrt, aber auch durch den Beitritt Badens zum Deutschen Zollverein, entwickelte sich das Provinzstädtchen Mannheim in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts zum größten Warenstapel- und Umschlagplatz Süddeutschlands. Unter diesen günstigen Voraussetzungen gedieh eine vielfältige Industrie, der Handel und das Gewerbe blühten und der Bedarf an Arbeitskräften nahm zu.
Mit dem Ausbau der Rheintalbahn 1870 wurde das Mannheimer Hinterland dem Verkehr erschlossen und in den Sog dieses Wirtschaftszentrums einbezogen. Viele Männer, die vorher in den Zigarrenfabriken tätig waren und auch Handwerker wanderten ab, weil ihnen in der Stadt bessere Verdienstmöglichkeiten geboten wurden.
Um die Jahrhundertwende marschierten die ersten Reilinger Arbeiter tagtäglich nach Rheinau zu ihren Arbeitsplätzen und durch den Wald nach Waghäusel in die Zuckerfabrik. Erst 1928 wurde durch die Inbetriebnahme der Omnibusverbindung zwischen Reilingen und Hockenheim, eine, für die Erwerbstätigen Reilingens, wichtige Verkehrslücke geschlossen.
von Josef Müller
( 16.01.2006 - 13:54)

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