Ortsgeschichte

Von Fahrrädern, Nähmaschinen und Zigarren
„Ferd. Müller- Fahrräder - Nähmaschinen“

Zurück zur Startseite - Zur Kategorie-Übersicht


Bilder und Text nach Aufzeichnungen von Martin Müller (Jahrgang 1923), dem ehemaligen Leiter des Meldeamtes im Rathaus Reilingen , ergänzt mit Anmerkungen von Philipp Bickle.

„Ferd. Müller- Fahrräder - Nähmaschinen“ steht auf dem Schild aus dem Jahre 1929. Das Bild entstand in der Ziegelgasse Nr. 39, denn dort wohnte Ferdinand Müller mit seiner Familie. Etwa seit 1920 bis an den Anfang der dreißiger Jahre betrieb Ferdinand Müller einen Fahrrad- und Nähmaschinenhandel als alleinstehender Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Auch zur Reparatur konnte man das 1858 erbaute Haus aufsuchen. An der Werkbank machte sich auch schon früh Sohn Martin zu schaffen, er war aber erst 6 Jahre alt. Er ist den Reilingern als guter Fußballer bekannt und führte später das Reilinger Meldeamt auf dem Rathaus. Auf dem Bild der Müllers in der Ziegelgasse 39, heute heißt es ja „Ziegelstraße“, sehen wir einen Schaukasten, in welchem Ersatzteile für Fahrräder und Nähmaschinen angeboten wurden. Neben der ausgetretenen Staffel, heute sagt man „Treppe“, sehen wir die beiden Kinder von Ferdinand und Theresia Müller, nämlich Friedel (Frieda), später verh. Krämer, und Sohn Martin, welcher heute noch im Elternhaus wohnt. Auf die Kinder passte Großmutter Barbara Fillinger auf, welche 1936 verstarb.

Ferdinand Müller besaß auch ein Motorrad der Marke „Triumph“, welches in der wenig motorisierten Zeit ein Prunkstück war, und um welches er oft beneidet wurde.

Als das Geld in der damaligen Zeit knapp wurde („Schwarzer Freitag“, Zusammenbruch der Börse 1929 und beginnende Arbeitslosenzeit) konnten nur noch wenige Fahrräder oder Nähmaschinen verkauft werden, so dass Ferdinand Müller den Handel aufgab. Nun begann er im selben Haus und im selben Raum mit der Fabrikation von Zigarren. Neben den Familienmitgliedern, wie auf dem zweiten Bild zu sehen, arbeiten noch Michael Öchsler aus der Ziegelgasse 36 und Franziska Frey. Sie wohnte im Hinterhof der Bäckerei Keitler zwischen Schulgassse und Hauptstraße gelegen (heute „Antiquitäten Adams“). Zum Stammpersonal zählte auch Luzia Kamuf geb. Öchsler. Auf dem Bild sind zu sehen ( v.l.n.r.): Theresia Müller geb. Fillinger, Michel (Michael) Öchsler, Franziska Frey, Tochter Friedel Müller und Vater Ferdinand .

Absatzgebiete waren überwiegend Mannheim und Berlin. In beiden Städten wurden die Zigarren und Zigarillos durch je einen Vertreter an die Tabakläden abgesetzt.

Sohn Martin, der auch die Handelschule in Schwetzingen besuchte, war für die Buchführung zuständig, fertigte die „Wickel“ an und Schwester Friedel gab dem Wickel mit der Ummantelung mit einem edlen Deckblatt den Wert einer stolzen Zigarre.

Der Wickel ist ein Rohling. Er ist von einem „Umblatt“ umhüllt und mit feingeschnittenem Tabak, der „Einlage“, gefüllt. Die Wickel werden dann in eine Form gedrückt und ein paar Stunden gepresst. Nun wurde von der Zigarrenmacherin der Wickel mit einem schönen Deckblatt umhüllt und die Zigarre war fertig (Die Kunst des Zigarrenmachens wurde bis vor kurzem beim Reilinger Heimatverein von Lydia Steinle und ihrer Schwester Gerlinde Schwab vorgeführt. Beide mussten aber aus gesundheitlichen Gründen aufhören. Deswegen sucht der Verein „Freunde Reilinger Geschichte“ neue Mithelfer, welche das Zigarrenmachen noch vorführen können.).

Die Deck- und Umblätter bei der Firma Ferdinand Müller stammten aus Sumatra und Java und wurden von Tabakhändlern aus Mannheim geliefert. Die fertigen Zigarren wurden dann fein säuberlich in schön verzierte Kästchen gelegt, welche bis vor kurzem noch von der Firma Wild aus der Neulußheimer Kornstraße gefertigt wurden. Versiegelt wurden die Kistchen mit einer „Banderole“, einem Zettel des Zolls (Wie es heute auch noch bei den Zigaretten üblich ist). So musste die Zigarrensteuer im Voraus entrichtet werden. Zur Kontrolle kam etwa alle 14 Tage ein Zollbeamter aus Schwetzingen und prüfte das Tabakgewicht und die gefertigten Zigarren. Der Lohn für eine Zigarrenarbeiterin betrug etwa 23 Mark in der Woche. Es war ein Akkordlohn und hing von der Schnelligkeit ab.

Im Jahre 1954 bekamen die über 10 kleinen Tabakfabriken in Reilingen (man nannte sie liebevoll „Quetsche“) eine Abfindung vom Staat und mussten den Betrieb schließen. So endete die Produktion von Ferdinand Müller im Jahre 1954 und der Besitzer verstarb auch im gleichen Jahr. Nur die größeren Betriebe konnten noch produzieren. Dies war in Reilingen z.B. die Firma Erhard. Älteren Reilingern sind noch gut die Betriebe von Adam Dürr oder Oskar Kneis in Erinnerung. Vor dem Kriege gab es auch die jüdische Firma Gebrüder Baer und auch Reilingens Ehrenbürger Ritzhaupt vom Wersauer Hof besaß eine große Zigarrenfabrik. Nach diesen beiden Namen sind heute Reilinger Straßen benannt.
( 10.09.2007 - 11:41)

Zurück zur Startseite - Zur Kategorie-Übersicht

Fabrikation von Zigarren bei Ferdinand MüllerFabrikation von Zigarren bei Ferdinand Müller: Auf dem Bild sind zu sehen ( v.l.n.r.): Theresia Müller geb. Fillinger, Michel (Michael) Öchsler, Franziska Frey, Tochter Friedel Müller und Vater Ferdinand

© Gemeinde Reilingen 2007