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Wie man 1915 Hamsterkäufe zu verhindern versuchte
[Online seit 17.03.2020]
Bedingt durch die Coronavirusansteckungsgefahr erfahren unsere jungen Leute zum ersten Mal, dass es in Geschäften leere Regale gibt. Die Einkaufswagen sind bestückt mit Konservendosen ( Gemüse hatte man früher in den „Weck“-gläsern selbst eingemacht im Keller liegen!), Klopapier, Küchentücher, Mehltüten und Trockenhefen, Haferflocken, Knäckebrot und Zwieback werden in Mengen eingekauft. An der Kasse soll es angeblich drei Kilo Mehl pro Kunden geben! Schnell noch das Handy zücken und ein Bild von den leeren Regalwänden an Freunde weiterschicken! Auf dem Rückweg dann noch bei „Penny „und „Lidl“ vorbei, denn die Nudeln waren ja auch ausverkauft! Keine Horrorgeschichten, sondern Tatsachen von der letzten Woche!!
Als 1915 im Ersten Weltkrieg die Waren knapp wurden, teilte man von der Regierung vorgeschriebene Lebensmittelmarken aus, damit jeder nach seinem Bedarf mit den knappen Reserven bedient werden konnte. Einen interessanten Fall kann ich hierzu aus den Reilinger Ratsprotokollen schildern. Nach Bürgermeister Müller vom Amt zurück trat (der hatte sich auch „nicht genügend um diese Sachen gekümmert!“), wurde der Ratschreiber Brecht mit dem Aussteilen und Überprüfen der Brot- und Mehlmarken beauftragt. Als Ratschreiber Brecht auch noch zum Militär ( zur Fahne“) gezogen wurde, erteilte der Gemeinderat seinem Mitglied B. K. den Auftrag für den „Vollzug und die Überwachung der Brot- und Mehlversorgung“.
„Im Kommunalverbands-Bezirk Schwetzingen ist bezüglich des Verkehrs mit Brotgetreide und Mehl angeordnet, dass Brot und Mehl nur gegen Brot- bzw. Mehlmarken abgegeben werden darf. Die Bürgermeisterämter sind als Ortspolizeibehörden zur Durchführung dieser Anordnung verpflichtet und vom Bezirksamt (Schwetzingen) der Bedeutsamkeit dieser Massregel für eine ausreichende Volksernährung bei jeder Gelegenheit noch besonders angehalten worden.“
Anfangs hielt sich B. K. an die Vorschriften, verzeichnete die Zahl von den Bäckern abgelieferten Brot- und Mehlkarten und bemass hiernach die den einzelnen Bäckern abzugebende Mehlmenge. Aber schon nach kurzer Zeit, nachdem die Bäcker die Zuführung des Mehls in ihre Behausung durchgesetzt hatten, überliess Gemeinderat B. K. die Mehlabgabe dem Polizeidiener und unterliess die Kontrolle der abgelieferten Mehl- und Brotkarten. Auf diese Weise entwickelte sich ein Zustand, wie er in der anliegenden Gendarmeriemeldung, auf deren Inhalt verwiesen wird, näher dargelegt ist. Es lässt sich kurz zusammenfassen, dass in Reilingen die Bäcker, ohne dass sie die Brot- und Mehlkarten abzuliefern brauchten, Mehl erhielten so viel sie haben wollten.
Deswegen erhielt Gemeinderat B. K. wegen einer Dienstnachlässigkeit einen Verweis und musste auch die Kosten des Verfahrens zahlen.
( Quelle: mit Schreibmaschine ausgeführtes Urteil des Bezirksrates Schwetzingen vom 25.11. 1915
Philipp Bickle/Foto: Philipp Bickle