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Erinnerungen an den alten Kirchendiener Zahs (Teil 2) (Dezember 1939)

[Online seit 28.07.2022]

Evangelischer  Pfarrer Otto Braun führte in seiner alten deutschen Schrift weiter:
„Ja, es ist eine Gnade Gottes, so dachte er nun, während er den Arm schwer auf die rohe,, ausgescheuerte Holzplatte des Tisches stützte, dass wir noch bei den zusammen dürfen, die Großmutter und ich. Langsam drehte er den müden, zittrigen Kopf zu ihr hin, die mit rüstiger Hand das knisternde Reisig ins Herdloch schob. Ihr Holz brachte sie bis heute immer noch selber und dem alten Handwägelchen aus dem Gemeindewald heim. Jetzt saß sie mit ihrem Strickstrumpf auf dem Holzstuhl am Tisch. Es war still in der Küchenstube; der Kopf des Alten war langsam vornüber gesunken. Die Großmutter schickte einen raschen Blick hinüber. Er schläft wieder, so schläft er jetzt fast immer, dachte sie bekümmert. Und das viele Wasser im Leibe und die dicken Füße, die nicht mehr in die Stiefel gehen. Und jetzt bleibt er auf keine Nacht mehr im Bett! Kaum eine Stunde liegt er, dann sitzt er wieder hier in seinem Stuhl. Ihre Stimme zitterte vernehmlich, als sie dem teilnehmend fragenden Pfarrer davon berichtete. Sie war in Unruhe um ihn. Es ging sichtbar abwärts!
„Hallo, Herr Pfarrer!“, rief die vollklingende Männerstimme über die Dorfstraße. Sie kam von einem älteren, barhäuptigen Herrn mit hoher Gestalt und scharfgeschnittenen Gesichtszügen, an dessen schwarzer Amtstracht man sofort den katholischen Priester erkannte. Mit elastischem Schritt und dem stolzen, aufrechten Gang eines des alten Offiziers – der schon bejahrte Pfarrherr konnte seine militärische Jugendzeit in der Kadettenanstalt nicht verleugnen, – überschritt der Rufer die Straße und erhob freundlich grüßend die Hand. Der Angerufene im grauen Anzug vom Rad eilte dem Älteren entgegen. Ein herzlicher Händedruck. Die beiden der verschiedenen Konfessionen standen auf freundlichem Fuß! „Aber kommen wir nicht vorher noch einmal zusammen zu einer gemütlichen Kaffeestunde? Es bleibt doch bei unserer Verabredung auf Sonntagnachmittag bei uns zur gewohnten Stunde. Wir freuen uns darauf!“, sagte Pfarrer Herrmann. (Es war der katholische Pfarrer Franz Josef Herrmann, der in Reilingen von 1922 bis 1942 als Pfarrkurat war, weil die katholische Kirchengemeinde zu Hockenheim zugehörig hatte!) Die Nachricht der Wehrübung (1938) des evangelischen Pfarrers (zur Marine) war schnell durch das Dorf  geeilt und das Kaffeetrinken fiel aus. 
Auch Kirchendiener Zahs wurde immer kränker. Oftmals stand die Großmutter an der Kirchentüre und begrüßte die Gemeinde zum Gottesdienst. Aber bald konnte sie nicht mehr an der Kirchentüre da sein, weil sie den Kirchendiener Zahs in der Wohnung (Kirchenstraße 36) rund um den Alten zu pflegen musste.
Noch einmal hat er sich am Ende des Jahres sich aufgerafft. Es war der Sylvesterabend 1938. Dicht gedrängt saßen die Frauen im schwarzen Feierkleid unten im Kirchenschiff, auf den beiden Emporen füllten die Männer und Jungmänner die Bänke, die an den Sonntagen das Jahr über oft ziemlich leer dastanden. Noch einmal strahlte der Christbaum mit seinen flackernden Kerzenlichtern vom Altar herab war und ins Gotteshaus hinein, das an diesem Altjahresabend immer von einer besonders vertrauten und bewegten Stimmung durchflutet war. Von der Kanzel klagen langsam und ernst nach altem Kirchenbrauch in der Gemeinde die Namen der Toten, die in dem scheidenden im Kinder- und Greisenalter aus Familienkreis und Gemeinde gerissen worden waren.  Und wenn nach jedem Namen das Textwort der Grabrede verlesen wurde, das über diesen Abgeschiedenen Christentrost  und –Hoffnung verkündet hatte, dann standen die um ein Liebes trauerten, im Geist noch einmal an dem offenen Grab, und mancher spürte hier wieder deutlicher die Kraft der ewigenn Worte, die dem fliehenden Leben Ziel geben und sich wie eine tröstende Hand aufs wunde Herzen legen. Und wenn der letzte Namen verklungen war, dann ging eine Frage unausgesprochen durch die stille Reihen: Wer von uns wird übers Jahr hier genannt werden unter den Toten des Jahres?
Was für Gedanken mochten dem alten Kirchendiener durch den müden Kopf ziehen? Dort saß er in der hintersten Bank und nickte vor sich hin. Sein Atem ging schwer in der warmen, überfüllten Kirche. Und als die Gemeinde nach dem Segenswort stehend Orgelklängen und aus dem Gotteshaus hinausströmten in die kalte Sylvesternacht, da lösten sich dicke Tropfen aus seinen Augen. Ahnte er, dass er heute zum letzten Mal an dieser Stätte stand, die ihm so ganz Heimat geworden war?
Er kam von dem an nicht mehr in seine Kirche. Die hochgeschwollenen Füße versagten den Dienst. An warmen Tagen saß er auf dem Holzbänkchen vor der Staffel draußen im Hof und sah durchs Hoftor hinaus denn Vorübergehenden nach. Als der Herbst trüben Himmel brachte, blieb er den ganzen Tag an seinem Platz drinnen am Küchentisch. An der Wand über der Kammertür ihm gegenüber hing das Bild „seiner“ Kirche, ein Geschenk seines Pfarrers zum 80. Geburtstages. Seine Augen ruhten auf dem Bild. Unscheinbar stand das graue Gotteshaus wie ein Kamerad in Reih und Glied mit den Häusern der Dorfstraße, die dicht an seine Seite heranrückten. Das einfache viereckige Turmdach ragte nur wenig hinaus über die Giebel ringsum. Die Fenster, die Tür, das eiserne Gittertor, alles war nüchtern und ohne Kunst; nein. Ein Kunstdenkmal war sie nicht, die alte Dorfkirche; aber es war „seine“ Kirche. Ein Stück seines Lebens, seines Herzens war sie geworden, bei aller schlichten Schmucklosigkeit doch vertraut!
Dämmerung senkte ihn Schatten die halbdunkle Küche, wo er so heute allein war. Die Betglocke erhob ihre Stimme und trug mit ihrem Klang die mahnende Frage in jedes Haus: Liebester Mensch, was mag bedeuten, dieser Glocke Abendläuten? Das bedeutet abermal dieses Lebens Ziel und Zahl. Wie der Tag hat abgenommen. So wird der Tod herkommen. Liebster Mensch, so schicke dich, dass der sterbest seliglich!

Quelle:
Quelle: "Türhüter in meines Gottes Haus", Erinnerungen an den alten Zahs, Dezember 1939 von Otto Braun - Bild um 1930 Kirchenstraße 36 mit 11 Bewohnern des Hauses zu sehen: Kirchendiener Zahs mit Frau. U. a. Frau Oberacker, Frau Hör als kleines Kind mit Mutter Lenchen (Bickle) und Personen aus der Familie Michelfelder.
Foto: le

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