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Spargelgemeinde Reilingen (Druckversion)

Ortsgeschichte

Wir berichten

Reilinger Heimatvertriebene sprechen über ihre alte Heimat: Die "Iglauer Sprachinsel" (Teil 1 )

[Online seit 22.02.2016]

Im mittleren Teil des Böhmisch-Mährischen Höhenzuges, an der Grenze der Länder Böhmen und Mähren, zwischen Prag und Brünn, heute Tschechien, liegt die Stadt Jihlava, welche bis 1945 "Iglau" hieß und 79 umliegende Ortschaften umfasste, in denen der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung eine Mehrheit bildete oder zumindest stark genug war, um kulturelle Formen des Zusammenlebens aufzuweisen. Von München aus sind es etwa 400 km und die Fläche betrug etwa 400 Quadratkilometer. 1930 hatte die Stadt Iglau 31 208 Einwohner. Von einer "Sprachinsel" spricht man, wenn ein Volk in seiner alten Muttersprache ("deutsch") spricht, und außen herum ein Volk anderer Sprache (hier: tschechisch) wohnt. Die Jglauer sind bayerischen Stammes und zeigen nord- und mittelbayerische Elemente. Die meisten Dörfer sind Angerdörfer, meist mit dem Dorfteich in der Mitte. Die Jglauer hatten ein reichhaltiges Brauchtum und trugen Tracht. Die Geschichte der Sprachinsel kann hier nicht ausreichend dargestellt werden. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns wird die "Insel" 1919 in den Vielvölkerstaat der "Tschechoslowakischen Republik" eingegliedert. Dieser Staat fühlte sich aber als Nationalstaat der Tschechen. Dort lebten aber auch 2,1 Mill. Slowaken, 0,5 Mill. Ukrainer, 0,1 Mill. Polen, 3,8 Mill. Deutsche, 0,8 Mill. Magyaren und 0,2 Mill. Juden. Die Deutschen errichteten Schulen aus eignen Mitteln. Unter Hitler kam es 1938 zum Münchner Abkommen. Die sudetendeutschen Randgebiete kamen zu Deutschland. Die Sprachinsel aber nicht. Im Jahre 1939 erklärte die Slowakei ihre Selbständigkeit und der tschechoslowakische Staat existierte nicht mehr. Die Deutschen besetzten Böhmen und Mähren. Die beiden Länder wurden Protektorat des Deutschen Reiches, ihre Bewohner wurden deutsche Reichsbürger. Deutsche Schulen wurden wieder eröffnet Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges blieb in Iglau und in einigen tschechischen oder gemischten Dörfern der Umgebung eine spezifische Volkskultur erhalten. Musikanten benutzten originelle hausgemachte Instrumente und Vierergruppen Fiedeln und Ploschperment (eine Art Bassgeige). Typische Tänze waren Hatscho//Hatschou, Tuschen und Radeln. Die Bäuerinnen trugen gern alte "pairische" Trachten mit Scharkaröckchen, glänzenden dunklen Schürzen und großen roten Tüchern.
Für unser Ortsblatt hat sich in dankeswerter Weise Frau Anni Deubel bereit erklärt, auf meine Bitte hin, in Kurzform von der Vertreibung zu berichten. Geboren wurde sie als Anni Polierer im Jahre 1938 in dem etwa 20 km von der Stadt Iglau entfernten Dorf Jesau. Dort kam sie 1944 in einer deutschen Schule in die erste Klasse. Sie hatten zu Hause eine kleine Landwirtschaft. Der Vater war während des Krieges bei der Deutschen Wehrmacht.
Im Mai 1945 musste die Familie Polierer (Vater war im Krieg, ob er noch lebte, war unbekannt, Mutter Katharina, Anni und der Bruder Franz) binnen einer halben Stunde das Haus und den Hof verlassen. Als Gepäck durften sie nur einen Rucksack mitnehmen. Sie wurden von russischen Soldaten und ortsfremden Tschechen vertrieben. Es wurde geplündert und geraubt. Die Häuser wurden an Tschechen vergeben. Die Familie Polierer kam zunächst in Gießhübel in ein Lager bei der Schule. Kurze Zeit später wurden sie von dort in ein anderes Lager in der Nähe von Iglau transportiert. Nun kamen tschechische Bauern vorbei und suchten sich unter den eingesperrten Deutschen, Menschen zum Arbeiten in der Landwirtschaft heraus. So kam die Familie zu einem Bauern und musste dort arbeiten. Der Bruder Franz war 10 Jahre alt, Anni 7 Jahre. Zunächst schliefen sie in einer Scheune im Stroh. Später wurde ihnen unter dem Taubenschlag für ein Jahr lang eine kleine Kammer zugewiesen. Es gab nur karges Essen. Die Kinder mussten Kühe hüten und andere landwirtschaftliche Arbeiten verrichten. Ihre Mutter, die im Stall und im Feld arbeitete, trug einen großen Trachtenrock. Unter dem Faltenrock hatte sie an einer Schnur eine blecherne Emailtasse versteckt. Mit dieser Tasse konnte sie beim Melken der Kühe stets etwas Milch "abzwacken" und heimlich den Kindern im Stall geben. "Ohne die Milch hätten wir wahrscheinlich nicht überlebt!" so erinnert sich Anni Deubel noch heute!"
Heute hat Iglau etwa 50 000 Einwohner. Eine ausführlichere Darstellung der "Iglauer Sprachinsel", darunter auch die von Frau Deubel für das Museum gespendete Trachtenpuppe und weitere Bilder werden am Sonntag, dem 6. März, um 14.30 Uhr, im Reilinger Heimatmuseum vorgestellt. Der Eintritt ins Museum und zur Ausstellung ist wie immer kostenlos!
Philipp Bickle ( Teil 2 folgt in der nächsten Ausgabe)
Karte der "Gemeinschaft Iglauer Sprachinsel e. V., S. 2, 6121 Rothenberg 1982)
Karte der "Gemeinschaft Iglauer Sprachinsel e. V., S. 2, 6121 Rothenberg 1982)
Großelternhaus in Jesau (um 1915) am Bach
Großelternhaus in Jesau (um 1915) am Bach

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